Liebe Monique,
die Flüssen in den Atlanten sind ungefährlich. Sie treten nicht über die Ufer, führen im Krieg keine Leichen mit sich. Sie berühren nur schüchtern die unentschlossenen Staatsgrenzen. Die Vulkane in den Atlanten schlafen, selbst wenn sie aktiv sind, erheben sich wie Grabsteine über die Städte, deren Gebäude auf den Fundamenten des Vergessens errichtet sind. Die Sprache der Natur kennt keine Metaphern, aber jede Tiefe und jede Eruptivität in der Natur ist, wie auch in der Poesie, gefährlich. Ich schreibe Dir aus Sarajevo, dessen Fluss die immer selbe Stille durch die Jahrhunderte trägt, und die Brücken sind Narben seiner Geduld. Man sagt, die beste Arznei gegen alle mörderischen Krankheiten und Erinnerungen sei Geduld. Ich hatte schon immer den Eindruck, dass Geduld keine Passivität ist, auch kein Zuspätkommen des Wesentlichen, so wie Stille kein dunkler Schatten der Worte ist. Stille erweitert den Raum, bringt mich dazu, inmitten des Lärms zu erwachen, der von den Krankenhäusern, den Plätzen voller Protestierender, voller Touristen und mit wertlosen Münzen gefüllter Springbrunnen kommt. Sie erlaubt es mir, die Schritte meines Sohnes zu hören, selbst wenn er schläft, den geduldigen Rhythmus der Zeit in der Wanduhr oder meiner Brust zu vernehmen. So begegne ich jeder neuen Stadt, die ich betrete – mit einem Schweigen angesichts jedes Schilds, auf dem die Namen der Straßen als archetypische verbale Erfahrung des urbanen Raums verewigt sind. In den Namen der Straßen versuche ich, etwas Bekanntes zu finden, wie ich im Gesicht eines jeden unbekannten Passanten versuche, eine bekannte Einsamkeit zu entdecken. Moderne Städte, im Gegensatz zu den antiken, haben mehr Tore als Himmelsrichtungen, so wie wir mehr Schlüssel haben als Häuser. Mit jedem Fortgehen werden auch die Schlüssel der Türen mehr, die ich nicht öffnen kann. Während ich Dir schreibe, betrachte ich Fotos von Menschen, die voller Angst ihr Zuhause verlassen, mit Leere in den Händen und in den Augen. Die Flucht aus dem Bekannten ist weitaus gefährlicher und schmerzhafter als das Unbekannte. Die Welt hat uns Entfernungen und Nähe des Schmerzes gelehrt, den wir entsprechend der historischen Zyklen formen, um ihn leichter zu ertragen. Manchmal denke ich, dass die poetische Wahrnehmung der Zeit einer tiefen Narbe auf der selektiven Erinnerung der Geschichte gleicht. Ist es möglich, in der Flucht einen Anfang zu erkennen und nicht bloß Verwüstung? Wachsen die schönsten Bäume auf den Gräbern, auf deren Grabstein kein Name steht? Welchen Brief hat der gefallene Soldat in seiner Tasche aufbewahrt, bevor der Regen die Worte in Tümpel verwandelte? Diese Fragen wird die Geschichte nicht stellen, weil sie existiert, um verschiedene Antworten auf dieselbe Wirklichkeit zu geben, auf dieselbe Gegenwart. Ich fühle mit allen, die aus den eingestürzten Mauern der Flucht ein Zuhause errichten müssen und die den Körper nicht im Zelt der alltäglichen Rituale unterbringen können. Als Kind träumte ich davon, mit einem Mal zu wachsen, um den Türgriff zu erreichen, wenn der Schnee zu fallen begann, und mein Großvater träumte davon, sich hinabzubeugen, um mich streicheln zu können. Zwischen diesen Zuständen von Wachsen und Fallen errichte ich das Zuhause der verletzlichen Wirklichkeit, das ich mit Unsicherheit verlassen werde. Man kann mehrere Male fortgehen, aber nur einmal zurückkehren.
Dein Nikola,
Sarajevo im August 2021
Erstmals veröffentlicht in manuskripte 233 (2021)