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REVISITING SARAJEVO

DIGITALER ESSAY
VON NIKOLA MADŽIROV

Ich reise mit dem Bus nach Sarajevo, der Schlaf reist mit mir. Die Verkehrsschilder markieren die Straßen wie die Befeuerung am Rand einer Landebahn, der Hirsch von „Achtung Wildwechsel“ wird eines Tages eine archäologische Tatsache sein wie die Zeichnungen erlegter Tiere an den Höhlenwänden. Wenn der Bus in eine Stadt einfährt, so als würde er in einen Tunnel eintauchen, schließen die Kinder die Augen, die Alten sprechen lauter, der Fahrer verringert die Geschwindigkeit. Die Straßenlampen kommen auf uns zu, immer zahlreicher und dichter, wie Wespen, die sich auf eine verlassene Wassermelone stürzen. Bevor ich nach Sarajevo aufbrach, sagte mein Vater nur Folgendes zu mir: „Fotografiere für mich die Tauben auf der Baščaršija.“ Er hatte nie einen Fuß dorthin gesetzt, aber dieses Bild aus den abendlichen Fernsehnachrichten, immer wenn es einen Beitrag aus Sarajevo gab, versetzt ihn zurück ins sichere Jugoslawien. Die Tauben sind nicht mehr dieselben, auch nicht der Geschmack der Eissorten, nicht die Augen der Passanten und nicht die billigen Souvenirs, die aus China kommen und von der viel zu teuer bezahlten Geschichte erzählen, aber das Bild der Tauben auf dem Platz, die plötzlich zum Himmel auffliegen, überdeckt in den Augen meines Vaters alle Bomben, die von diesem Himmel gefallen sind.

Ich überlegte, was ich mitnehmen sollte — das kleine Kissen mit dem aufgestickten Olympiamaskottchen Vučko befindet sich längst außerhalb meiner materiellen Erinnerung. Vielleicht „Sarajevo Blues“ von Semezdin Mehmedinović oder „Sarajevo Marlboro“ von Miljenko Jergović, die ich im kalten Zimmer des steinernen Hauses las, in dem ich aufwuchs ... Ich flüchtete vor der menschlichen Kälte in die leeren Zimmer, um zu lesen, ich flüchtete von einer Sprache in die andere, um richtig gelesen zu werden. Flüchtlinge nehmen die Besitzurkunden ihrer Immobilien mit, in der Hoffnung, dass sie eines Tages zurückkehren werden, aber auch die Fotos aus dem Familienalbum, aus Angst, dass sie nie mehr zurückkehren könnten. Zwischen Hoffnung und Angst der persönlichen Zeiten tickt die Uhr der Geschichte am lautesten. Auch wenn ich selbst oft die Minuten anhalten möchte, erschrecke ich, wenn ich eine Uhr sehe, die die Zeit nicht misst, und die Städte sind voll von ihnen. Ich stelle mir eine Karte der Plätze mit kaputten Uhren vor und mit jeweils einem verlorenen Handschuh, der die ganze Ohnmacht der geöffneten Handfläche zeigt.

In den Städten bewege ich mich von einer Straße zur anderen wie ein Zeitungsausträger oder Verteiler von Supermarktreklamen, auch wenn ich nur die unterbrochenen Lebenslinien in Händen halte. Ich kam nach einem schweren und langen Kampf gegen Covid nach Sarajevo, das Lungengewebe voller Narben, die aussehen wie Linien, die man in ein eisernes Bettgestell in einer Kaserne geritzt hat. Die Ärzte haben mir vom Fliegen abgeraten, vielleicht waren sie der Ansicht, es wäre Zeit für mich, zur Bodenständigkeit der Gedanken zurückzukehren, wissend, dass sich im Grenzbewusstsein, dargestellt durch meinen Schatten unter dem Krankenhausbett, abwechselnd, doch friedlich helle und verfinsterte Welten vermischen, von denen ich sonst glaubte, sie könnten nur durch den Tod oder Krieg miteinander verbunden werden.
Ich setzte die langen Spaziergänge fort, vorbei an den Brücken über die Miljacka, die als Denkmäler übrigbleiben werden, falls der Fluss einmal verschwindet, so wie die Implantate in uns unsere Körper überleben werden. Vor zwanzig Jahren, bei meinem ersten Besuch in Sarajevo, es war ein Schulausflug im Jahr 1991, stieg ich im Hotel „Saraj“ ab, Zimmer 315, durchnässt vom Regen wie ein Buch, das jemand an der Bushaltestelle vergessen hat. Der strömende Regen ließ die rote Erde vom Hügel abbröckeln und vereinte sie mit der Miljacka, doch am nächsten zum Horizont des dunklen Himmels erhoben sich die Grabsteine, die aussahen wie erstarrte weiße Blitze des Kriegsgrauens. Damals schrieb ich in einem Atemzug ein paar Verse, die zu veröffentlichen ich nie den Mut aufbrachte, weil ich glaubte, entweder die Ruhe der Toten oder den Schmerz aller, die sich vor der Abwesenheit verneigen, zu stören.

ZIMMER MIT

BLICK AUF GRÄBER

ZIMMER MIT

BLICK AUF GRÄBER

Ich legte die Handflächen aufs Fenster,
der Vorhang warf Falten auf mein Gesicht
und verbarg mich so vor den Toten.
Der Fluss ist rot nach dem Regen
wie die Augen Gottes nach jedem Krieg.
Mutter und Kind
steigen langsam zu den Gräbern hinauf,
sehen einander wegen des engen Pfads
nicht ins Gesicht.
Sie schrecken niemanden auf mit ihren Schritten,
denn dort oben gibt es keine Tauben.
Die Lebenslinien
zeichnen sich wie Risse
auf der Fensterscheibe ab.

Ich legte die Handflächen aufs Fenster,
der Vorhang warf Falten auf mein Gesicht
und verbarg mich so vor den Toten.
Der Fluss ist rot nach dem Regen
wie die Augen Gottes nach jedem Krieg.
Mutter und Kind
steigen langsam zu den Gräbern hinauf,
sehen einander wegen des engen Pfads
nicht ins Gesicht.
Sie schrecken niemanden auf mit ihren Schritten,
denn dort oben gibt es keine Tauben.
Die Lebenslinien
zeichnen sich wie Risse
auf der Fensterscheibe ab.

Ich erinnere mich an die Worte von Wenders: „Berlin ist keine Stadt, es ist ein Schauplatz“, Worte, die man in das Fundament jeder beliebigen Stadt einmauern kann, die ihre räumliche Dimension überwunden hat und zu einem Ritual des Lebens geworden ist. Man muss sich in Sarajevo die Einsamkeit erkämpfen, weil der warme Blick der Passanten und all jener, die die Stadt verlassen haben, über einem schwebt wie ein Vogel, der gerade so weit fliegt, dass er sein Nest noch im Blickfeld hat. Diesmal vermeide ich es, Museen zu besuchen, weil ich Angst vor ihrer Beständigkeit habe. Ich bewege mich durch die Straßen, die den Schatten zweier großer Reiche bewahren, ich höre die Schritte auf dem Kopfsteinpflaster und sage die Entfernungen vorher. Es war die Zeit des Sarajevo Film Festivals, und ich wies die Dokumente über meine Erkrankung als Eintrittskarte für einen sicheren Besuch der Kinosäle vor. Die Antikörper halfen meinem Körper, die Grenzen der Wirklichkeit unbeschadet zu überschreiten. Die Nähe zum Antlitz des Todes öffnete mir die Türen zu den imaginären Filmwelten. In Sarajevo sprach ich mit Wenders über die Dynamik der Räume und ihr lebendiges Zeugnis über die vergangene und illusorische Anwesenheit von Menschen und Prozessen.

Er suchte zuerst nach den Horizonten des Raums, und erst danach grub er in den Tiefen des unerforschten Raums die Geschichte aus. Zuerst der Raum, dann die Geschichte. Und gibt es überhaupt eine Geschichte ohne Raum, gibt es einen körperlosen Schmerz, gibt es ein Erwachen ohne Schlaflosigkeit? Am Ende hinterließ er eine Nachricht: „Dichter sind wesentlich, um die Welt zu verstehen.“ Doch ich selbst kann das Töten nicht verstehen, obwohl ich Tag und Nacht Punkte dafür sammelte in den stickigen Spielhallen voller Kinder, die schon lange niemand mehr umarmt hatte. Ich habe es schon mehrfach gesagt – ich fühle mich hilflos angesichts von Krieg, angesichts der Uniformiertheit des Todes, angesichts der Unmöglichkeit, einsam zu sterben. Es werden Verse ausgetauscht, die zu würdigen Epitaphen für die Menschen, für die Städte, für den Glauben an die Stille werden könnten. Der Krieg hat keine Negation, der Frieden aber hat den Unfrieden, und die Dichtung ist eine Geliebte des Unfriedens, der inneren Kämpfe zwischen den Sprachen der Ängste und der eingeschlossenen Gefühle. Inmitten des Krieges empfinde ich die Dichtung wie eine Windmühle, die den Wind sichtbar macht, ihn aber eigentlich umlenken will.

Ich traf mich in Sarajevo mit lieben Freunden – trank von der Augustsonne gewärmten Kaffee mit Mile, mit Semezdin, mit Faruk, mit Asmir, mit Saida, mit Bjanka … Mit Dževad blieb es bei einer Verabredung für „irgendwann“ in „irgendeiner Stadt“, und Ferida kaufte mir eine Karte für das Konzert von Damir Imamović im Hof des Botanischen Gartens, über dem die Raumlosigkeit der planetaren Sevdalinka-Melancholie schwebte, während alle Kämpfe zwischen den Wurzeln der Kräuter leise und unterirdisch geführt wurden. Doch welche sind die Wurzeln dessen, der weggeht und zurückkehrt, wie groß ist die Trauer dessen, der die Befreiung von einem vorhergehenden Krieg inmitten eines neuen Krieges feiert?

In jener Nacht schlief ich so gut wie gar nicht. So war es auch in den anderen Nächten, in denen ich mich an die mechanischen Bewegungen des Ventilators in der Wohnung gewöhnte und in die Stille des Klaviers eintauchte, hinter dem sich der laute Staubsauger versteckte. In der Taubheit der Morgendämmerung kämpfte ich darum, die Graffiti auf den erneuerten Mauern zu erlauschen, mit der Schwere eiserner Fensterläden den Sieg der Straßenkehrer über die Nacht zu hören.

Ich schrieb nicht, sondern atmete. Ich wollte ein neues Erwachen bezeugen, wollte zwischen zwei leeren Containern hindurchgehen, um die Leere aller Anfänge zu bezeugen. Sarajevo war meine erste Reise mit den neuen Narben auf meiner Lunge, die ich als neu gezeichnete Karten von Städten in der Nähe von Meeren empfand, die durch die Spuren ankommender und abfahrender Schiffen gemustert waren. Als Kinder bauten wir am Strand Städte aus Sand, diese Städte hatten keine Namen, auch keine Straßen, und doch träumten wir davon, in ihnen zu leben. Von diesen Städten ist nichts übriggeblieben. Alles, was ich habe, sind die Worte meiner Großmutter, die sagte, dass ein Stein, den man versetzt, selbst nie Moos ansetzt. Während ich einschlief, spürte ich, wie sich mein ganzer Körper in Moos einhüllt. Und der Krieg schläft.

Liebe Monique,

die Flüssen in den Atlanten sind ungefährlich. Sie treten nicht über die Ufer, führen im Krieg keine Leichen mit sich. Sie berühren nur schüchtern die unentschlossenen Staatsgrenzen. Die Vulkane in den Atlanten schlafen, selbst wenn sie aktiv sind, erheben sich wie Grabsteine über die Städte, deren Gebäude auf den Fundamenten des Vergessens errichtet sind. Die Sprache der Natur kennt keine Metaphern, aber jede Tiefe und jede Eruptivität in der Natur ist, wie auch in der Poesie, gefährlich. Ich schreibe Dir aus Sarajevo, dessen Fluss die immer selbe Stille durch die Jahrhunderte trägt, und die Brücken sind Narben seiner Geduld. Man sagt, die beste Arznei gegen alle mörderischen Krankheiten und Erinnerungen sei Geduld. Ich hatte schon immer den Eindruck, dass Geduld keine Passivität ist, auch kein Zuspätkommen des Wesentlichen, so wie Stille kein dunkler Schatten der Worte ist. Stille erweitert den Raum, bringt mich dazu, inmitten des Lärms zu erwachen, der von den Krankenhäusern, den Plätzen voller Protestierender, voller Touristen und mit wertlosen Münzen gefüllter Springbrunnen kommt. Sie erlaubt es mir, die Schritte meines Sohnes zu hören, selbst wenn er schläft, den geduldigen Rhythmus der Zeit in der Wanduhr oder meiner Brust zu vernehmen. So begegne ich jeder neuen Stadt, die ich betrete – mit einem Schweigen angesichts jedes Schilds, auf dem die Namen der Straßen als archetypische verbale Erfahrung des urbanen Raums verewigt sind. In den Namen der Straßen versuche ich, etwas Bekanntes zu finden, wie ich im Gesicht eines jeden unbekannten Passanten versuche, eine bekannte Einsamkeit zu entdecken. Moderne Städte, im Gegensatz zu den antiken, haben mehr Tore als Himmelsrichtungen, so wie wir mehr Schlüssel haben als Häuser. Mit jedem Fortgehen werden auch die Schlüssel der Türen mehr, die ich nicht öffnen kann. Während ich Dir schreibe, betrachte ich Fotos von Menschen, die voller Angst ihr Zuhause verlassen, mit Leere in den Händen und in den Augen. Die Flucht aus dem Bekannten ist weitaus gefährlicher und schmerzhafter als das Unbekannte. Die Welt hat uns Entfernungen und Nähe des Schmerzes gelehrt, den wir entsprechend der historischen Zyklen formen, um ihn leichter zu ertragen. Manchmal denke ich, dass die poetische Wahrnehmung der Zeit einer tiefen Narbe auf der selektiven Erinnerung der Geschichte gleicht. Ist es möglich, in der Flucht einen Anfang zu erkennen und nicht bloß Verwüstung? Wachsen die schönsten Bäume auf den Gräbern, auf deren Grabstein kein Name steht? Welchen Brief hat der gefallene Soldat in seiner Tasche aufbewahrt, bevor der Regen die Worte in Tümpel verwandelte? Diese Fragen wird die Geschichte nicht stellen, weil sie existiert, um verschiedene Antworten auf dieselbe Wirklichkeit zu geben, auf dieselbe Gegenwart. Ich fühle mit allen, die aus den eingestürzten Mauern der Flucht ein Zuhause errichten müssen und die den Körper nicht im Zelt der alltäglichen Rituale unterbringen können. Als Kind träumte ich davon, mit einem Mal zu wachsen, um den Türgriff zu erreichen, wenn der Schnee zu fallen begann, und mein Großvater träumte davon, sich hinabzubeugen, um mich streicheln zu können. Zwischen diesen Zuständen von Wachsen und Fallen errichte ich das Zuhause der verletzlichen Wirklichkeit, das ich mit Unsicherheit verlassen werde. Man kann mehrere Male fortgehen, aber nur einmal zurückkehren.

Dein Nikola,
Sarajevo im August 2021

Erstmals veröffentlicht in manuskripte 233 (2021)

Aus dem Mazedonischen von Alexander Sitzmann.

Nikola Madžirov (Dichter, Essayist, Übersetzer) wurde 1973 in Strumica in einer Familie von Balkankriegsflüchtlingen geboren. Seine Gedichte sind in mehr als vierzig Sprachen übersetzt und haben zahlreiche Auszeichnungen erhalten, darunter den Hubert-Burda-Preis für seine Sammlung Premesten kamen (2007). Die deutsche Ausgabe ist in der renommierten Lyrik-Kabinett-Reihe bei Hanser erschienen. Zu Madžirovs Übersetzungen zählen u.a. Werke von Louise Glück, Marko Pogačar und Ana Ristović. Als Essayist schreibt er für zahlreiche internationale Zeitschriften. Er ist einer der Koordinatoren des in Berlin ansässigen internationalen Poesienetzwerks Lyrikline und Mitherausgeber von Stremež, einer der ältesten Literaturzeitschriften Nordmazedoniens. Der amerikanische Jazzkomponist Oliver Lake sowie Michael League und Becca Stevens haben Musikstücke zu seinen Gedichten komponiert. Aufenthalte führten Madžirov an eine Vielzahl von Orten, darunter Iowa City, Paris und Berlin.

Fotos: © Nikola Madžirov
Foto von Nikola Madžirov: © Dirk Skiba

Projektleitung: Barbara Anderlič

Design: Beri